Das Tao der Malerei

Kunstschaffen ist naturgemäß verbunden mit dem persönlichen Lebensvollzug und der  Weltsicht.  Die abendländische Kunst hat in ihrer Wandlung durch die Jahrhunderte Zeugnis für eine geistige Entwicklung abgelegt, ja diese Entwicklung und die begleitende gesellschaftliche Veränderung sensibel wie Lackmuspapier früh angezeigt: Von der Dinglichkeit der Abbildung zur Vieldeutigkeit der Abstraktion, vom Figürlich-Körperlichen zum Mental-Geistigen, vom Statischen zum Prozeßhaften, von der Ich-Fixierung zur Vernetzung, nicht selten von der Immanenz zur Transzendenz. So kann beispielsweise der Dichter, Maler und Philosoph Roland Barthes über Cy Twombly sagen: „Er produziert, ohne sich anzueignen; er tut, ohne etwas zu erwarten. Ist sein Werk vollendet, hängt er nicht daran; und weil er nicht daran hängt, wird sein Werk bleiben.“  Mit diesen Worten nimmt Barthes die westliche Kunsttradition bei der Hand und stellt sie durch ein abgewandeltes Zitat von Laotse in einen Zusammenhang mit der asiatischen. Ich finde es aufregend und befruchtend, westliche und östliche (aber auch südliche) Traditionen dabei zu beobachten, wie sie, aus verschiedenen Richtungen kommend, im Kunstschaffen eine gemeinsame Sprache finden.  Gerade das Informel, als Beispiel eines rezenten westlich-abendländischen Kunststils,  erschließt sich der Betrachtung am deutlichsten, wenn man sich die taoistische Kunstauffassung vor Augen führt – und dürfte auch zum Verständnis meiner Bilder hilfreich sein.

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„Der Taoismus ist möglicherweise der kostbarste Beitrag Chinas zur Kulturgeschichte der Menschheit.“ (E. Herrigel)  Tao (syn. Dao) bedeutet ursprünglich Weg, später Prinzip, rechter Weg, bei Laotse nimmt das Tao die Bedeutung des alles durchdringenden Prinzips an. Es ist höchste Wirklichkeit, uranfängliche Einheit, absolutes kosmisches Gesetz, höchstes Mysterium. Wiewohl in der chinesischen Übersetzung der Bibel Gott als Logos mit Tao übersetzt wird, ist in der asiatischen Philosophie Tao kein omnipotentes Wesen, sondern Vereinigung aller Gegensätze. Eugen Herrigel übersetzt Tao/Leere mit Nahtlosigkeit. Es äußert sich als Kosmos und in den Naturgesetzen, ist aber jenseits der physikalischen Dinglichkeit. Erfassen kann man es nur durch die Meditation.

„Leer ist es dennoch der unermeßliche Schoß aller Dinge“.  

(Daodejing I/4)

Die Begegnung des (indischen) Buddhismus mit dem (chinesischen) Taoismus führte zur Geburt des Chan-Buddhismus, heute weltweit als Zen bekannt und praktiziert. 

Einige Begriffe aus der asiatischen Ästhetik  drücken die gegenwärtigen künstlerischen Bemühungen am besten aus  - und sind auch dem Betrachter  meiner Werke möglicherweise hilfreich.

Der Begriff des „wuwei“ etwa entstammt dem Taoismus und bedeutet „Nicht-Handeln“, „Absolutes Handeln“,  „Handeln durch Nicht-Handeln, und meint letztlich Handeln gemäß seinem wahren Wesen und im Einklang mit dem Tao. Der Weise wird sein Handeln nicht von seiner weltlichen Involviertheit bestimmen lassen, sondern ohne Einmischung und Kraftaufwand dem natürlichen Verlauf Raum geben.

In der Malerei bedeutet Wuwei demgemäß „Malen durch Nicht-Malen“, absichtsloses, kindhaftes, aus dem Augenblick, der spontanen Gestik und den momentan vorhandenen Malmitteln entspringendes Schaffen – frei von Kunstwollen und akademischem Regelwerk, aber auch frei von Ehrgeiz und Eitelkeit. Im Gegenteil (und ausgedrückt in Abwandlung eines Wortes von Laotse)

„Geringer werden und wieder geringer werden, um zum Nicht-Malen zu kommen. Nicht-Malen – und nichts bleibt ungemalt.“

Ein weiterer Begriff in diesem Zusammenhang ist „wabi-sabi“.

 „Der Reisende macht sich Gedanken über sein Nachtlager, wenn sich die Dämmerung über das Land legt. Er steht an einem Binsenfeld, daher bindet er so viele Halme er fassen kann und knotet sie an der Spitze, sodass eine Hütte entsteht.  In ihr verbringt er die Nacht. Am nächsten Morgen, bevor er aufbricht, löst er den Knoten und schlagartig verschwindet die Hütte, um wieder Teil des Binsenfeldes zu werden. Die Ursprünglichkeit scheint wieder her gestellt. Nur Spuren bleiben zurück: hier ein zerdrücktes Gras, dort eine geknickte Binse, eine Erinnerung im Gedächtnis des Reisenden.“ (zit. aus: Leonard Koren, Wabi-sabi – Japans Philosophie der Bescheidenheit; Wasmuth, 1995)

Es ist schwierig, eine treffende Übersetzung des japanischen Begriffes „Wabi-Sabi“ zu geben.  Am ehesten gelingt ein spürender Zugang.  Als Verbum bedeutet „wabiru“ sich nach etwas sehnen.  Als Adjektiv bedeutet „wabishii“ einsam, verlassen, elend. „Sabi“ wiederum bezeichnet eine Stimmung, die beim Lesen der oben zitierten Episode entstehen könnte: die Melancholie der Vergänglichkeit, die Erinnerung an eine Begegnung  - jedoch ohne Traurigkeit, sondern eher als Gelassenheit zu beschreiben. 

Auf den ersten Blick beschreiben diese  Aspekte eher weniger angenehme Gemüts- und Lebensumstände, und dennoch sind sie zum erstrebenswerten Ideal einer ganzen Kultur geworden. Im umfassendsten Sinne beschreiben sie eine bestimmte Lebensführung der Gelassenheit, der Einfachheit, der Achtsamkeit. Im engsten Sinne bezeichnen sie eine bestimmte Vorstellung von Schönheit. Schlichtheit, Flüchtigkeit, auch Abnutzung und Korrosion sind darin enthalten. Ausdruck dieser Ästhetik können sein: einen Sprung in einer Teeschale aufmerksam zu betrachten,  über ein oft benütztes Möbelstück sanft mit der Hand zu streichen, ein Haiku zu dichten, sich an einer Blüte zu erfreuen, „ den glimmenden Docht nicht zu löschen“ (ich verwende dieses Bibelzitat mit Absicht, um zu verdeutlichen, daß im abendländischen Denken diese Werte nicht unbekannt sind!),  dem Unvollkommenen, Gebrochenen, Vor- oder Beiläufigen Wertschätzung entgegen zu bringen.

Dieser Begriff hat mich in den letzten Jahren künstlerisch sehr beeinflusst, und er beschreibt den Weg, den ich gesucht habe: eine absichtslose Herangehensweise an das Werk, Farbigkeit durch Abnutzung und Erosion von (Farb-) schichten, Formgebung durch spontanen Malgestus, Schemenhaftigkeit und Mehrdeutigkeit der Formen.Die Bilder wollen nichts benennen und nichts erklären. Sie sind nur  Ahnungen vom Realen – von Fülle und Nichts. In meinen Bildern voller Chiffren drücke ich meine Skepsis vor der realen Welt aus – nicht als Pessimist, sondern in der Gelassenheit dessen der weiß, dass wir das Wesen der Dinge nicht ergründen werden und selbst höchst flüchtige Wesen sind.

Diese Flüchtigkeit umgibt uns auch in der Kunstrezeption: Im Augenblick der Betrachtung sind die Bilder real, weil wir mit ihnen in einen Dialog treten. Einen Augenblick später sind sie Erinnerung.

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Im Zen gibt es den Begriff des „shoshin“, d. h. Anfänger-Geist. Dieser Begriff wird in den Unterweisungen immer wieder bemüht, um die rechte Herangehensweise an das Leben zu beschreiben. Der Geist des Anfängers ist leer, frei von Gewohnheiten, bereit anzunehmen, allen Möglichkeiten offen gegenüber zu stehen. Der Zen-Weg der Malerei besteht also darin, dass man auf die allerdirekteste, einfachste Weise malt, als ob man ein Anfänger wäre, ohne sich um Schönheit oder Botschaft zu bemühen. Sondern einfach in voller Aufmerksamkeit den Pinsel zu führen, die Tuben zu drücken, mit der Hand die Farben zu verteilen – als ob man ein Kind wäre, welches, seiner Welt entrückt, das Malen zum ersten Mal entdeckte.

Dies bedeutet keinesfalls Willkür oder Regellosigkeit, sondern erfordert im Gegenteil Achtsamkeit und vertieftes Wahrnehmen seiner selbst und dessen was man gerade tut. Doch in dem Maße man seiner selbst gewahr ist, in diesem und jeden weiteren  Augenblick zum stillen Zeugen seines Daseins und Soseins wird, kann das durch den Künstler wirken, was seit dem Urbeginn, Augenblick für Augenblick, die Evolution treibt – mag man es nun TAO, ES, oder Das Göttliche nennen. In diesen –  begnadeten – Momenten ist der Künstler Teil und Werkzeug des Schöpfungsgeschehens. Daisetz Suzuki drückt dies so aus: „Das Geheimnis besteht darin, das Werk selbst zu werden. Wie kann ein Mensch zu einem Werk, Ding, Objekt werden? Insofern er das Erschaffen anstrebt, muß in ihm etwas sein, was diesem Werk auf die eine oder andere Weise entspricht. Die Disziplin besteht darin, das Motiv in einem gänzlich von selbstischen Inhalten geläutertem Denken einwärts-gekehrt zu studieren, das Denken in Einklang zu halten mit der Leere oder dem An-sich-Sein, wodurch man aufhört, außerhalb dessen zu sein. Diese Identifikation versetzt den Künstler in die Lage, den Pulsschlag des einen und selben Lebens zu spüren, der ihn und das Motiv beseelt.“

Aus diesen Überlegungen möchte ich abschließend, und  in Anlehnung an die taoistische Kunstauffassung, vier Ebenen der Kunstperzeption unterscheiden. 

Das ist einmal die Ebene des Motivs. Die Verbindung der Idee mit der äußeren Form bewirkt den Bildinhalt. Er löst beim Betrachter das Gefühl der Schönheit oder Stimmigkeit und der Verschmelzung von Sein und Schein aus.

Dann gibt es die Ebene der Empfindung. Das Bild gibt die Gefühle des Künstlers durch das Dargestellte wieder, der Betrachter kann sich dieser Gefühle gewahr werden, wenn er es zuläßt und sich dem Werk hingibt.

Sodann haben wir die Ebene des Bewußtseins. Es erschließt sich eine über den Bildinhalt hinaus gehende, tiefere Bedeutung oder Wahrheit und ermöglicht im Betrachter reichhaltige Vorstellungen und Assoziationen.

Und schließlich die Ebene der Meditation: unbegrenzt wirkt das Geschaffene, bewirkt im Betrachter spontane Erkenntnis, führt ihn zur Ansicht dessen, „was er vor seiner Geburt war“. Das Selbst vor der Geburt ist ein formloses Selbst jenseits von Zeit und Raum. Reines Bewußtsein im Angesicht der reinen Leere, der Nahtlosigkeit, die ihn und das Werk gleichermaßen durchdringt und hervorbringt. (Frei zitiert nach Tang Jinhai, Prof. für Sinologie, Universität. Fudan, China)

Man mag versucht sein, Parallelen zur künstlerischen Vollkommenheit  eines Werkes zu sehen. Künstlerische Vollkommenheit mag diesen Weg erleichtern, wer weiß? Dennoch  ist dies eine Falle.  Das Verstehen eines Kunstwerkes und seine Zugänglichkeit sind ein subjektiver, aber aktiver Prozeß und liegen im Geist des Betrachters. Erst im Dialog mit ihm und im Wahrnehmen erschließt sich ein Werk. Die Falle besteht darin, dem verdinglichenden und wertenden Charakter unserer Sprache (und damit unseres Denkens)  die oberste Instanz zuzugestehen und sich damit den Weg zur eigenen Wahrnehmung in den o. a. vier Ebenen zu verbauen. Allein im nicht wertenden Wahrnehmen sind Künstler, Werk und Betrachter sich am nächsten. 

Peter Gungl