Bild & Betrachter

Ich möchte, in Anlehnung an die taoistische Kunstauffassung, vier Ebenen der Bildbetrachtung unterscheiden. Man mag versucht sein, Parallelen zur künstlerischen Vollkommenheit eines Werkes zu sehen. Das ist eine Falle.

Allein im Dialog und in der Gewahrsamkeit erschließt sich ein Werk. Seine Zugänglichkeit ist aktiver Prozeß und liegt im Bemühen des Betrachters. Künstlerische Vollkommenheit mag diesen Weg möglicherweise erleichtern, wer weiß?

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Das ist einmal die Ebene des Motivs. Die Verbindung der Idee mit der äußeren Form bewirkt den Bildinhalt. Er löst beim Betrachter das Gefühl der Schönheit oder Stimmigkeit und der Verschmelzung von Sein und Schein aus.

Dann gibt es die Ebene der Empfindung. Das Bild gibt die Gefühle des Künstlers durch das Dargestellte wieder, der Betrachter ist deren Adressat und kann sich dieser Gefühle gewahr werden, wenn er es zuläßt und sich dem Werk hingibt.

Sodann haben wir die Ebene des Bewusstseins. Es erschließt sich eine über den Bildinhalt hinaus gehende, tiefere Bedeutung oder Wahrheit und ermöglicht im Betrachter reichhaltige Vorstellungen und Assoziationen.

Und schließlich die Ebene der Meditation: unbegrenzt wirkt das Geschaffene, bewirkt im Betrachter spontane Erkenntnis, führt ihn zur Ansicht dessen, „was er vor seiner Geburt war“. Das Selbst vor der Geburt ist ein formloses Selbst jenseits von Zeit und Raum. Reines Bewusstsein im Angesicht der reinen Leere.

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Die Kunst des Westens hat im 20. Jahrhundert das Informel (i.e. abstrakter Expressionismus) entdeckt, jene Stilrichtung und Gestaltungsweise, die dem spontanen, absichtslosen Schaffen den Weg öffnet. Mit der Loslösung vom Abbild und einer vordergründigen Verstehbarkeit weitet sich dem Betrachter ein neuer Raum der Bildrezeption: 

Schönheit und Stimmigkeit entstehen nicht mehr aus dem Vergleich mit etwas Vorbekanntem, sondern aus abstrakten Modalitäten wie Harmonie, Proportion, Spannung und Überraschung. Gefühle übertragen sich vor allem aus dynamischem Duktus, Spontaneitätshinweisen, Auswahl der Materialien und Farben. In der Hingabe an diese Modalitäten entstehen Gefühle und Assoziationen – der Betrachter und das Betrachtete werden eins. Und in den besten Momenten versinkt die Welt. Für eine kurze Ewigkeit.